[Antisemitismus] Ein Appell an die Zivilgesellschaft: "Schonzeit vorbei" von Juna Grossmann
Rezension

[Antisemitismus] Ein Appell an die Zivilgesellschaft: „Schonzeit vorbei“ von Juna Grossmann

Neben Desintegriert euch! von Max Czollek (erschienen bei Hanser) ist Schonzeit vorbei von Juna Grossmann DIE aktuelle Lektüre zum Thema jüdischer Antisemitismus. Juna Grossmann bloggt außerdem unter irgendwie jüdisch über ihr jüdisches Leben in Berlin.

„Kaum wahrgenommen von der Öffentlichkeit.“ 

Schonzeit vorbei, Seite 43

Juna Grossmann arbeitet in einer NS-Gedenkstätte. Dort ebenso wie in ihrem täglichen Alltag erlebt sie immer wieder Formen von Antisemitismus. In diesem sehr persönlichen Bericht schildert sie anekdotisch verschiedene Begebenheiten und schnell wird klar: Antisemitismus ist längst kein Randphänomen mehr. Viele der geschilderten Vorkommnisse sind bereits einzeln betrachtet aufrüttelnd. In dem geschilderten Gesamtbild wird jedoch klar, wie stark das Problem in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Sehr gelungen fand ich dabei die Gegenüberstellung von Antisemitismus, den sie privat erlebt, sowie solchem, der ihr in ihrer Arbeitsstätte entgegenschlägt. Privat macht Grossmann nach eigener Schilderung kein Geheimnis aus ihrem Glauben. Dennoch überlegt sie sich zunehmend, in welcher Form sie sich offen jüdisch zu erkennen gibt. Diese Tatsache ebenso wie verschiedene Schilderungen von Reaktionen auf ihr Jüdischsein sind in einem Land, in dem Religionsfreiheit herrscht, ein Armutszeugnis. Bemerkenswert finde ich dazu die eingestreuten Schilderungen aus ihrer  beruflichen Perspektive. Obgleich sie sich an ihrer Arbeitsstätte nicht offen als Jüdin zu erkennen gibt und dort auch Christen, Muslime sowie Atheisten arbeiten (schließlich ist Museumsarbeit sowie Erinnerungskultur religionsübergreifend wichtig), wird sie von Besuchern als jüdisch „gelesen“ und bekommt Anfeindungen zu spüren. Dass diese Anfeindungen antisemitischer Art sind, davon zeugen gesammelte Leserbriefe, die im Jüdischen Museum in der Ausstellung „Ich bin kein Antisemit“ unter Klarnamen ausgestellt wurden. Viele der Briefe beginnen mit einem „Ich bin kein Antisemit, aber…“

„Alle Jahre wieder, in schöner Regelmäßigkeit werden wir Juden aufgefordert, nicht hierhin und nicht dorthin zu gehen, nicht dieses oder jenes zu tragen, damit man uns nicht erkennt. Ich kann es nicht mehr hören und finde es absurd, dieses Verstecken. (…) Ich bin es leid, dass mir gesagt wird, ich müsse meine Freiheit beschränken, nur weil irgendwelche Idioten gerade wieder mal Juden als ihre bevorzugten Hassobjekte ausgesucht haben. Sollten wir nicht woanders ansetzen? Sollte nicht viel lauter gerufen werden, dass DIE sich fernhalten sollen?“

Schonzeit vorbei, Seite 89

Was mich während der Lektüre am nachhaltigsten bewegte ist der Eindruck, dass in den Begegnungen mit jüdischen Menschen oftmals ein Grundtenor mitschwingt: Würden Jüdinnen und Juden sich angepasster verhalten, so würde man ihnen auch gar nicht so negativ gegenüberstehen. Gleichwohl ist es auffällig, in welcher Intensität die Attacken stattfinden: Hat der Winterräumdienst vor dem Jüdischen Museum nicht rechtzeitig den Schnee geräumt, so ist natürlich das Museum Schuld an dieser Misslage, obwohl doch die Juden genug Geld vom Staat bekämen. Solche wie auch andere Schilderungen machen die Lektüre des Buches nicht einfacher, denn man bleibt als Leser fassungslos zurück angesichts des Geschilderten. Deswegen ist dieses Buch, so persönlich es auch ist, wichtig: Indem es zum Nachdenken anregt und ausgehend von einer Einzelperson auf die Problematik insgesamt hinweist. Und indem es keine Lösungen von oben fordert, sondern an die Gesellschaft, an jeden Einzelnen appelliert, sich zu positionieren, sich einzumischen und nicht wegzusehen.

„Es herrscht ein ohrenbetäubendes Schweigen derer, die widersprechen könnten, die alldem Einhalt gebieten könnten, der „normalen Bürger“, die nicht die Zielobjekte der Diskriminierungen sind. Es bleibt, wie so oft, bei den Bedrohten, bei den Opfern selbst, sich zu wehren, laut zu werden und zum aktiven Widerspruch aufzufordern.“

Schonzeit vorbei, Seite 153

Fazit: Schonungslos offen sammelt Juna Grossmann antisemitische Vorfälle. Sehr persönlich erzählt sie vom Jüdischsein in Deutschland und der Erinnerungsarbeit in einer NS-Gedenkstätte. Sie zeigt dabei aktuelle Tendenzen einfühlsam auf und appelliert an eine stärkere zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung. Denn unabhängig von unserem Glauben oder Nichtglauben gilt im Angesicht des wachsenden Hasses: Die Schonzeit ist vorbei!

Ebenfalls empfehlenswert:

Emcke, Carolin: Gegen den Hass: Teils sehr theoretisch, aber eine gelungene Grundlage zum Thema Hass

Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes: Sachbuch über die intellektuellen Strömungen der Neuen Rechten Bewegungen

Sow, Noah: Deutschland Schwarz weiß: Erfahrungsbericht und Handbuch zum Thema Alltagsrassismus schwarzer Deutscher. Leicht lesbar und sehr anschaulich, auch gut geeignet für thematische Einsteiger!


Das Buch

Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus von Juna Grossmann
Droemer Knaur
erschienen 3. September 2018

Das Buch habe ich von Knaur kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen.

Herzlichen Dank!

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