„Die Arbeit der Nacht“ von Thomas Glavinic *enthält Spoiler*
Das Buch
Jonas ist allein. Zuerst ist es nur eine kleine Irritation, als die Zeitung nicht vor der Tür liegt und Fernseher und Radio nur Rauschen von sich geben. Dann jedoch wird Jonas klar, dass seine Stadt, Wien, menschenleer ist. Ist er der einzige Überlebende einer Katastrophe? Sind die Menschen geflüchtet? Wenn ja, wovor? Jonas beginnt zu suchen. Er durchstreift die Stadt, die Läden, die Wohnungen und bricht schließlich mit einem Truck auf, um nach Spuren der Menschen suchen. Mit wachsender Spannung erzählt Thomas Glavinic davon, was Menschsein heißt, wenn es keine Menschen mehr gibt.
Meine Meinung
Ein spannendes Grundthema: Wer ist der Mensch, wenn niemand sonst außer ihm existiert? Was macht das mit ihm? Ich war begeistert, als ich die Kurzbeschreibung gelesen hatte und freute mich richtig auf diesen Roman in meinem Seminar.
Der Roman liest sich schon mal sehr stimmungsvoll. Jonas wacht alleine auf und außer ihm scheint niemand mehr in Wien zu sein. Wohin sind alle verschwunden? Er durchsucht Wohnung, öffentliche Gebäude, Kirchen und findet keinen Hinweis. Bis auf die Abwesenheit von Menschen scheint alles normal – Strom und Wasser funktionieren, auch das Mobilnetz läuft noch, nur Internet gibt es nicht mehr. Er fragt sich, was passiert sein könnte und so langsam setzt ein schleichendes Unbehagen ein. Wenn da keiner ist, warum ist die Streichholzschachtel umgedreht? Hatte er die Tür beim letzten Hiersein geöffnet gelassen oder nicht doch geschlossen? Da hab ich mich tatsächlich ein bisschen gegruselt beim abendlichen Lesen (und ich grusel mich bei Büchern selten, schon eher bei Filmen).
Ohne sich umzusehen, verließ er das Zimmer. Mit steifem Rücken stelzte er auf die Haustür zu. Er wollte schneller gehen, doch etwas hemmte ihn. Den sonderbaren Bildern im Flur schenkte er keine Beachtung. Er hängte den Autoschlüssel an den Haken.
In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß es
ein
Bild
mehr
war als beim letztenmal.
Von außen schloß er die Tür zu. Wie an Drähten ging er über den schmalen Weg der Straße zu. Um nicht in der Welt hätte er noch einmal das Haus betreten.
Die Arbeit der Nacht, Seite 245
Der Grusel baut sich langsam auf, aber er ist eindeutig da. Fast die komplette erste Hälfte des Buches hatte ich das Gefühl, dass da noch eine weitere Person ist. *Spoiler* Die Spannung wird ganz perfide aufgebaut – und das schon bevor mit der Figur des Schläfers alles noch verworrener wird. Über diese Figur haben wir im Seminar auch lange diskutiert…. *Spoilerende*
Fazit
Insgesamt fand ich die Grundidee des Buches sehr interessant. Das Buch war auch wirklich spannend zu lesen, ich hatte mir dennoch etwas anderes erhofft. Vielleicht konnte ich mich auch einfach nicht mit Jonas als Figur anfreunden, da dieser schon sehr wehleidig war manchmal. Auch lässt das Buch natürlich bewusst unbeantwortet, wohin eigentlich all die anderen Menschen verschwunden sind. Der Fokus lag eindeutig nicht auf der Frage, was eigentlich mit der Welt passiert, wenn die Menschheit verschwinden würde (dies hatte ich viel stärker erwartet).
„Das bin doch ich“
(genau aufgepasst, jetzt wird’s kurz verwirrend 😀 )
Ich habe in einem anderen Seminar schon einmal „Das bin doch ich“ von Thomas Glavinic gelesen. „Das bin doch ich“ wurde nach „Die Arbeit der Nacht“ geschrieben und handelt von einem Autoren namens Thomas Glavinic, der ein Buch namens „Die Arbeit der Nacht“ geschrieben hat. Thomas Glavinic (der fiktive) fragt sich, warum sein Buch eigentlich nie auf der Longlist für den Buchpreis erscheint, sondern immer nur Bücher seines Freundes Daniel Kehlmann (fiktiv). Eigentlich habe ich die beiden Bücher ja in der falschen Reihenfolge gelesen, witzig war es dennoch. Man erfährt in „Das bin doch ich“ immer mal wieder ein paar Schnipsel aus der Romanhandlung von „Die Arbeit der Nacht“ und hat so schon einen groben Eindruck, worum es geht. Außerdem folgt man dem fiktiven Autor, der so ganz und gar unmotiviert vor sich hin arbeitet und auf den großen Ruhm wartet. „Das bin doch ich“ ist damit eher ein Roman über den Literaturbetrieb als über die Schriftstellerei, aber nichtsdestotrotz ist es ein sehr spannender Roman.
Fun Fact (jetzt wieder ganz unfiktiv): „Die Arbeit der Nacht“ erschien tatsächlich nicht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis – dafür aber im Jahr darauf „Das bin doch ich“
Im Seminar ***Spoiler***
Im Seminar haben wir sehr lange über die Logik des Romans diskutiert. Ist das Szenario realistisch? Bis auf das Verschwinden der Menschen ändert sich an der erzählten Welt nichts im Vergleich zur Wirklichkeit des Lesers. Das Internet funktioniert zwar nicht mehr – dafür jedoch Strom, Wasser und Mobilfunknetze. Zudem kann sich Jonas glücklicherweise an genug haltbaren und konservierten Lebensmittel gütlich tun, doch lange genießt er noch den Geschmack frischer Milch oder Eier. Dennoch gibt es phantastische Ereignisse, die sich nur übernatürlich erklären lassen (er findet beispielsweise in einer fremden Wohnung ein ihm unbekanntes Video seiner Eltern und Großeltern- wie soll das da gelandet sein? Völlig unmotiviert).
Außerdem haben wir uns die Figur des Schläfers angesehen. Manifestiert sich im Schläfer der Überlebenswille Jonas‘? Der Schläfer handelt als eigene Figur, Jonas geht zunächst von einem simplen Schlafwandeln aus. Doch das Handeln des Schläfers ist so entgegengesetzt zu Jonas Willen, das es auffällig ist. Besonders als Jonas den Entschluss fasst, nach London zu fahren und dort seine Freundin Marie zu suchen und der Schläfer ihn offensichtlich mit allen Mitteln daran hindern will. Der Schläfer wird im Laufe des Romans immer dominanter und ist schließlich von Jonas nur noch durch die Einnahme von Medikamenten blockierbar (diese verhindern sein Einschlafen, wodurch der Schläfer die Übermacht bekäme).
Was macht ein Individuum zu einem Individuum?
Durch die Abwesenheit der Gesellschaft, durch das Fehlen der Anderen kann Jonas sich immer schwerer als Individuum wahrnehmen. Anfangs hofft er noch auf eine Rückkehr der anderen Menschen und hinterlässt Zeichen. Nach und nach verliert sich das, er begreift seine Isolation und damit verliert auch alles seinen Sinn. Er versucht eine Ordnung wiederherzustellen, die es nicht geben kann, ohne die Anwesenheit von anderen, die ihn wahrnehmen. Jonas stellt sich die Frage: Existiere ich, wenn niemand mich wahrnimmt – und zerbricht daran.
Hier geht’s zum Buch
Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic
Carl Hanser Verlag
395 Seiten, 9,99 Euro (E-Book)
Auch spannend: Das bin doch ich von Thomas Glavinic [Link zum Verlag]
7 Kommentare
Anne
Interessantes Buch, erinnert mich ein wenig an „Die Wand“ von Marlen Haushofer, wo die Hauptfigur ebenfalls damit klarkommen muss, plötzlich ganz allein und abgeschnitten von allen Menschen zu sein. Weniger gruslig, mehr eine Meditation über die Einsamkeit und das Leben mit und in der Natur (die Frau ist in den Bergen, nicht in der Stadt).
Jennifer
Dieses Buch hat unser Dozent ebenfalls erwähnt und wir haben die beiden ein wenig miteinander verglichen. Interessant ist ja, dass beide Protagonisten total entgegengesetzt mit der Situation umgehen…
Anne
Was vielleicht auch Rückschlüsse auf typische männliche vs. weibliche Verhaltensmuster in einer solchen Situation geben könnte 😉 Obwohl das natürlich arg klischeehaft ist. In „Die Wand“ kommt ja am Ende ein Mann und zerstört die Harmonie, die die Frau zuvor empfand …
Jennifer
Ich weiß nicht, ob das ein typisch männliches oder ein typisch weibliches Verhaltensmuster ist. In der Literatur vielleicht, aber sonst ist der Mann doch angeblich immer der Starke, Überlebensfähigere 😉
Nein, ernsthaft. Ich denke, es ist eher eine Typfrage: Verzweifelt man an der Situation oder lernt man mir ihr umzugehen? Da finden die beiden Romane ja ganz andere Ansätze…
VG und nen schönen Abend 🙂
Jennifer
hunderttausendbuecher
Hi! Ich habe selbst alle Glavinic Bücher gelesen (glaub ich zumindest vielleicht fehlt mir auch eines ^^) und ich fand deinen Beitrag hier gerade sehr interessant! Es ist schon eine Weile her seit ich die Arbeit der Nacht gelesen habe, ich glaube es war sogar mein erster Glavinic aber ich fand es sehr interessant zu lesen was ihr im Seminar so besprochen habt. Wenn man das Buch nur in der Freizeit liest macht man sich natürlich auch Gedanken, aber sicherlich nicht so intensiv.
Lg Nadine 🙂
Jennifer
Hi Nadine,
deshalb liebe ich meine Seminarbücher immer so sehr! Man bekommt in so einem Seminar einfach immer noch mal einen ganz anderen Blickwinkel auf das Buch 🙂
VG Jennifer
Pingback: