[Gastbeitrag] „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge
Gastbeitrag von Laura S.: DaF-Studentin, liest gerne gehaltvoll, fantastische Freundin
Versuch einer begründeten Empfehlung
Romane über die DDR gibt es viele. Da gibt es jene, die anekdotenhaft skurrile Geschichten über die Stasi, über Bananen-Entbehrungen und über die schöne Zeit am Ostsee-Strand berichten. Jene, deren unterschwellige oder auch sehr direkte Botschaft es ist, dass man auch im Sozialismus glücklich sein konnte. Jene, die lächeln oder belächeln. Dann gibt es solche, die die Diktatur, den Unrechtsstaat thematisieren. Lebensgeschichten über Verfolgung, Einschränkung oder Flucht. Romane über die DDR gibt es viele und viele habe ich gelesen. Aber nie zuvor habe ich einen gelesen, der die Komplexität dieses nicht mehr existenten Staates und seiner bis in die Gegenwart und Zukunft reichenden Realitäten erfasst. Ein Roman, der weder verklärt noch verurteilt.
In Zeiten des abnehmenden Lichts lässt uns das Leben einer Familie über drei Generationen begleiten, beginnend im Exil während des zweiten Weltkrieges, endend 2001, Jahre nach der Wiedervereinigung. Wir lernen alle Familienmitglieder kennen, wir erkennen ihre Verstrickungen, ihre Träume; wir sehen diese Träume platzen, wir erleben die Gefahren und Ernüchterungen, denen sie ausgesetzt sind, wir sehen sie lieben und glücklich sein, wir sind Teil ihrer Konflikte. Die Charaktere sind tief und wirken so glaubwürdig, als wäre der Roman vielmehr eine Dokumentation – so sehr gelingt dem Autor der Perspektivwechsel und der Blick in die Personen.
Einblick in die Handlung
„Im Mittelpunkt steht ein Familienfest: der 90. Geburtstag des Patriarchen Wilhelm am 1. Oktober 1989. Dieser Großvater kehrte 1952 mit seiner Frau Charlotte aus dem Exil in Mexiko in die DDR zurück, ein echter Proletarier, der es zu einer respektablen Funktionärslaufbahn brachte, und der nun, zum Geburtstag, mal wieder mit einem Orden ausgezeichnet wird. Sein Sohn Kurt floh vor der Naziherrschaft ins russische Exil, nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde er verhaftet, kam in ein Lager und wurde nach Sibirien verbannt. Dort heiratete er die Russin Irina, die Mutter des Erzählers, die sich später in der DDR immer ein wenig fremd fühlt und sich an ihrem russischen Akzent und am Alkohol wärmt. […] Kurt, wie der Vater im Roman heißt, leidet im Jahr 2001 an einer massiven Demenz und kann eigentlich nur noch ein Wort sagen kann: „Ja“. Alexander, der ein eher gespanntes Verhältnis zu ihm hatte, erinnert sich an ihn als einen besessenen Arbeiter, der seine Zeit damit verbrachte, Texte in die Schreibmaschine zu hämmern, die nach der Wende, ergraut und bleischwer, zu Makulatur geworden sind. Mit dem Sozialismus ist auch das Projekt einer kritischen Revision obsolet geworden. Nun muss der Sohn den Vater versorgen und pflegen. Er hat kein Mitleid mit ihm, eher leise Verachtung, findet jedenfalls nichts dabei, ihn zu bestehlen: Mit dem Geld, das der Vater besinnungslos aus den Automaten zieht und im Tresor im Arbeitszimmer bunkert und sofort wieder vergisst, reist er nach Mexiko, auf den Spuren der Großeltern, als könne er so die Familiengeschichte irgendwie doch noch abrunden und das Ende in den Anfang münden lassen.“
Die besondere Leistung liegt in der Erzählweise einerseits und in der sprachlichen Ausgestaltung andererseits. Die Kunst des Erzählens offenbart sich im Spiel mit der Zeit. Jedes Kapitel spielt in einer anderen Etappe des Familienlebens, immer wieder kehren wir jedoch zurück und sehen die gleiche Etappe aus der Perspektive einer anderen Person. Ganz intensiv zeigt sich der Reiz dieses zeitlichen Spiels im 90. Geburtstag von Wilhelm. Sechs Mal kehrt der Erzähler zu dieser Feier zurück, sechs Mal aus der Sicht eines anderen Familienmitglieds, sechs Mal ist die gleiche Szene vollkommen anders. Dieser Perspektivwechsel schafft Wahrnehmung. Wir Lesenden fühlen uns teilhabend, wir fühlen uns in die Szenerie hineingezogen. Dennoch bleiben Leerstellen, die nicht nur dem Spannungsbogen sondern auch der Glaubwürdigkeit dienen. Bei der Größe eben jenes Bogens ist es nahezu logisch, nicht alles wissen zu können, ein auktorialer Erzähler wäre schlicht nicht überzeugend. Dieser Eindruck wird durch die sprachliche Ausgestaltung, in der sich Rede und Gedanken scheinbar untrennbar vermischen, vertieft.
Fazit
In Zeiten des abnehmenden Lichts gelingt es, wie vor ihm vielleicht nur Tellkamps Der Turm, eine Familiengeschichte zu erzählen, die nur scheinbar zufällig in die Zeit der DDR fällt, aber eben jene multiperspektivisch wiedergibt, sodass uns nichts anderes übrig bleibt als zu denken: Ja, genau so ist es gewesen. Und es ist nur eine Geschichte von vielen. Zum Glück wurde sie erzählt.
Vielen lieben Dank an Laura S. für ihren wunderbaren Gastbeitrag
und die Vorstellung eines spannenden Buches!
Herzlichen Dank auch an Jörg Magenau für die Genehmigung zur Nutzung seines Zitats!
Hier geht’s zum Buch:
In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge
rororo (Rowohlt)
432 Seiten // 9,99 Euro
ISBN: 978-3-499-25412-3
erhielt 2011 den Deutschen Buchpreis
Ein Kommentar
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