[Kurzvorstellung] Der seltene Vogel von Jostein Gaarder
Den größten Teil der Zeit verschläft die Welt. Den größten Teil des Raumes auch. Nur ab und zu reibt sie sich den Schlaf aus den Augen und erwacht.
„Wer bin ich?“ fragt die Welt. „Woher komme ich?“
Für einige Sekunden hat der seltene Vogel auf unserer Schulter Platz genommen.
Der seltene Vogel
In Jostein Gaarders frühen Sammlung von Erzählungen finden sich unterschiedlichste Geschichten. Wie in vielen anderen Romanen auch, lässt Gaarder wie nebenbei Philophisches einfließen und regt mich immer wieder zum Nachdenken an. Aufgrund der großen Fülle an kleinen Erzählungen, werde ich euch hier nur exemplarisch einige wenige vorstellen können. Aber vielleicht ist ja für den einen oder anderen etwas interessantes dabei 🙂
Der Zeitscanner
In Der Zeitsscanner wurde, wie der Name schon vermuten lässt, in einer (hoffentlich nicht so nahen) Zukunft ein Zeitscanner erfunden. Mit diesem kann man zu jedwedem Zeitpunkt in der Zeit springen und diesen Moment am Bildschirm erleben. Aber wie kann man leben, wenn die Versuchung, sich die Vergangenheit – fern wie nah – anzusehen, so immens groß ist? Wird die eigene Realität dagegen nicht unglaublich langweilig? Wie gehen wir damit um, wenn auch wir jederzeit durch jedermann gesehen werden können? Ich fand die Grundidee unglaublich spannend und auch die Fragen, die durch die Entwicklung einer solchen Maschine aufgeworfen werden, sind sehr interessant. Die Auswirkungen auf das persönliche Leben wie auch auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung sind so viel größer, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Diese Erzählung, die die zweite im Band bildet, hat mich sehr gefesselt. Sehr, sehr lesenswert!
Die Diagnose
Jenny, eine bislang gesunde 36-jährige Frau, erhält eine Diagnose, die ihr bisheriges Leben mit einem Streich unwichtig werden lässt: Sie hat nur noch wenige Wochen zu leben. Zwar gibt es die Möglichkeit, eine Kur auf einer Insel zu machen, um der Krankheit etwas entgegenzusetzen und das Leben zu verlänger. Doch die bohrenden Stunden, bevor der Flieger abhebt, versinkt Jenny in Niedergeschlagenheit. Erinnerungsfetzen sowie Reflexionen über die Krankheit und das Leben im Allgemeinen – vielleicht liegt es daran, dass ich nicht gerne über solche unabwendbaren Schicksale lese: Mich konnte diese Erzählung leider gar nicht fesseln. Statt Mitleid herrschte bei mir Ungeduld vor – ich wartete immerzu auf ein Aufbegehren der Protagonistin. So habe ich immer langsamer gelesen und schließlich sogar eine Unterbrechung von mehreren Monaten gehabt. Auch bei einem zweiten Versuch kam ich nicht in die Geschichte. Schlussendlich habe ich mich – unüblich meinem sonstigen Leseverhalten – dazu entschieden, die Geschichte abzubrechen und mit der nächsten Erzählung weiterzulesen.
Der Mann, der nicht sterben wollte
Der Mann, der nicht sterben wollte, sieht nur einen Ausweg aus seinem Schicksal: Den Tod kann er nicht aufhalten – aber er kann dafür sorgen, dass er im Gedächtnis bleibt. So hinterlässt er einen Scherbenhaufen in einem kleinen Geschäft und – infolge des anschließenden Gerichtsprozesses – eine verwirrte Justiz: Wie kann man jemanden zur Rechenschaft ziehen, dem alles egal ist? Ist der anstehende Tod eine Entschuldigung für Vandalismus?
„Verstehen Sie nicht? Ich möchte eine Warnung aussprechen: an das Glasgeschäft und an den gesamten juristischen Apparat. Nennen Sie es Lehrgeld. Denn mir ist klar, daß solche Einfälle leicht Schule machen können. Sie können Lawinen auslösen. Ich bin ja, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, nicht der einzige, der sterben muß. Aber ich bin der erste, der eingegriffen hat. Vielleicht eröffne ich hiermit den Reigen der Porzellanterroristen kommender Generationen.“
„Porzellanterroristen?“
„Vielleicht sind in hundert Jahren keine einzige Vase und kein noch so winziger Krug, mehr übrig, um zerschlagen zu werden. Vielleicht sind sie dann alle vernichtet worden – aus Protest gegen den Tod.“
Auf nur wenigen Seiten stellt Gaarder hier elementare Fragen über ein juristisch vertracktes Problem. Wie funktioniert unsere Justiz – und vor allem, in welchen Fällen kann sie nicht funktionieren, weil Resozialisierung nicht aufgrund von Unwillen sondern Unmöglichkeit nicht geschehen kann. Wie gehen wir mit Menschen um, die im Inbegriff sind zu sterben? Und in welcher Form kann man gegen den Tod protestieren?
Der Katalog
Eine demokratische Gesellschaft in der Zukunft: Alle 4 Jahre erscheint der Katalog. Jeder volljährige Mensch, ob Mann, ob Frau, ob alt, ob jung, ob weise, ob bäuerlich, wirklich jeder volljährige Mensch ist verpflichtet 4 Zeilen (die Sentenzen) für den Katalog abzuliefern. Diese können philosophisch sein, sie können den letzten Einkaufszettel darstellen, von Liebe, vom Leben, von Neubeginn oder dem Ende handeln. Alle stehen gleichberechtigt im Katalog, sortiert nach der Region der Herkunft, sodass ein jeder lesen kann, was dem Nachbarn, dem Freund, dem Verwandten oder auch dem Unbekannten elementar und wichtig genug erschien, in den Katalog aufgenommen zu werden. Niemand wird bevorzugt, der Denker oder Politiker wird nicht über den einfachen Bürger gestellt, erhält nicht mehr Platz im Katalog als die anderen. Ist das die höchste Form von Gleichberechtigung? Ist das Gleichwertigkeit aller Menschen?
Oft genug jedoch müssen wir Sentenzen durch Zwangsmaßnahmen herbeischaffen. Wenn sich das als unmöglich erweist, dann erscheint der betreffende Name ohne Sentenz im Katalog – und das gilt als allergrößte Schande. Denn ist es nicht fast schon ein Verbrechen, wenn ein Mensch von einem Schaltjahr zum anderen sein Leben fristet, ohne etwas Wesentliches zu sagen zu haben? Solche nichtssagenden Gemüter werden auch als Schmarotzer bezeichnet. In regelmäßigen Abständen wird der Vorschlag laut, ihnen Wohnung und Lebensmittel zu entziehen.
Auch diese Geschichte hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Anscheinend sind bestimmte Reflexe der Menschheit übertragbar. Oft stimmt mich Gaarder beim Lesen sehr traurig, dennoch finde ich es gut und wichtig, sich hin und wieder auch mit den Abgründen der Menschheit auseinander zu setzen.
Abschließend
Abschließend lässt sich sagen, dass Gaarder mich wieder sehr nachdenklich gestimmt hat. Viele schöne und interessante Erzählungen habe ich gelesen, nur mit einigen wenigen konnte ich so gar nichts anfangen. Diese habe ich viel zu lange zu lesen versucht, bevor ich sie schließlich übersprungen habe. Insgesamt bin ich froh, dass ich den Band gelesen habe und freue mich nun wieder auf den nächsten Roman, den ich von Gaarder lesen werde. Durch die knappen Erzählungen, komprimiert Gaarder eine unglaubliche Tiefe in seinen Geschichten. Ich habe euch hier drei längere und eine kurze Geschichte vorgestellt. Einige Schnipsel in dem Band umfassen gerade mal eine halbe Seite und ihre Rezension wäre länger als das Original. Dennoch steckt überall eine solche Dichte an Gedanken, dass es schier unglaublich ist. Ich empfehle auf jeden Fall längere Denkpausen zwischen einzelnen Geschichten 😉
Lest ihr auch gerne Erzählungen mit philosophischem Charakter? Oder reizt euch das gar nicht?
Hier geht’s zum Buch
Der seltene Vogel von Jostein Gaarder
Deutscher Taschenbuch Verlag
233 Seiten, 9,90 Euro
7 Kommentare
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Sonja
Ui, das klingt interessant, muss ich mir mal genauer anschauen!
Jennifer
Mach das. Für philosophisch Interessierte steckt da echt ne Menge drin 🙂
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Sven
Hallo Jenni, das klingt nach einem interessanten Buch. Der Zeitscanner erinnert mich an eine Episode in der dunkle Turm, bei der der Protagonist sich für längere Zeit dabei verliert über ein Artefakt Ereignisse aus seiner Vergangenheit immer wieder abzurufen. Er verliert sich dabei darin, so wie es sonst Drogenabhängige tun.
Liebe Grüße
Dein Freund Sven 😉
Jennifer
Ich verleihe es gerne 😉
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