Die Unterschätzten. Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt von Cerstin Gammelin
Rezension

Macht der Osten Politik? – „Die Unterschätzten“ von Cerstin Gammelin

Inwieweit bestimmt der Osten die deutsche Politik wirklich? Ich muss gestehen, dass ich über weite Teile des Buches dachte, dass der Untertitel falsch gewählt wäre. Am Ende muss ich mir aber eingestehen: Ich habe mich geirrt!

Die Unterschätzten – Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der Osten in weiten Teilen der Bundesrepublik unverstanden. Gleichzeitig wurden die Verwicklungen rund um die Wiedervereinigung, insbesondere die Abwicklung der Wirtschaft durch die Treuhand, nie wirklich aufgearbeitet, die Akten dazu werden nach guter deutscher Tradition über Jahrzehnte hinweg unter Verschluss gehalten. Cerstin Gammelin nimmt uns in ihrem Buch mit durch den (heutigen) Osten und zeigt, warum viele Probleme der Einheit noch immer bestehen.

Strukturelle Probleme erläutert am Anekdotischen

Mir persönlich fehlt in zweifacher Hinsicht der Zugang zu allen Ost-West-Debatten. Zum einen bin ich, 1991 geboren, schlicht einfach zu jung um irgendeinen Bezug zur Wende zu haben. Zum anderen bin ich im Westen geboren und groß geworden. Und auch wenn ich dachte, dass das keinen Unterschied machen würde, hat mich Gammelin gelehrt, dass dem nicht so ist. Aber dazu später mehr. In thematisch sortierten Kapiteln greift Gammelin in Die Unterschätzten verschiedene bis heute bestehende strukturelle Probleme auf. Sie liefert dabei einerseits historische Hintergründe und erläutert Zusammenhänge, mischt aber anhand ehemaliger Schulfreunde immer wieder anekdotische Geschichten mit hinein. Und auch wenn anekdotische Evidenz nicht aussagekräftig ist, zeigen diese Geschichten doch auch, wie tiefgreifend die erläuterten Probleme sind.

Ein Beispiel gefällig? In einem Kapitel geht es um die vielfältigen beruflichen Umbrüche direkt nach der Wende. Viele Jobs fielen nach der Wende schlicht weg, etwa weil Betriebe durch die Treuhand geschlossen wurden. An anderer Stelle wurden Stellen zusammengelegt, um Betriebe fit für den Wettbewerb mit dem Westen zu machen. Besonders in Führungspositionen, aber nicht nur dort, wurden vermehrt Zugezogene aus dem Westen eingestellt. Diese beruflichen Umbrüche führten in vielen Fällen zu radikalen beruflichen Veränderungen für die Menschen im Osten. Diese Tatsache zieht sich durch das gesamte Buch, fast alle vorgestellten Personen haben keine linearen Lebensläufe, sondern wurden zu weitreichenden Berufswechseln gezwungen. Und, wie Gammelin andeutet, führte die aus diesen beruflichen Umbrüchen resultierende Unsicherheit auch dazu, dass die Familienplanung in vielen Familien schwierig wurde. Die Tatsache, dass viele Familien sich (bewusst) gegen (weitere) Kinder entschieden, beeinflusst die Gesellschaft im Osten über Jahre hinweg.

An anderer Stelle wird erläutert, dass Menschen im Osten noch heute häufiger zur Miete wohnen als im Westen. Auch dies resultiert noch immer aus der Zeit der Wende: Natürlich war im Osten eigener Wohnraum weniger üblich als im Westen. Aber wer hatte nach der Wende das Geld um die Wohnungen und Häuser günstig zu kaufen? Selten die Menschen, die den Wohnraum bewohnt haben. Auch dies ist eine Struktur, die sich bis heute hält: Die meisten Immobilienbesitzer von Ost-Immobilien leben noch immer im Westen. Und wiederum: Was macht es mit der Gesellschaft vor Ort, wenn Führungspersonen zu großen Teilen aus dem Westen gen Osten pendeln? Was macht es mit der Gesellschaft vor Ort, wenn die großen Betriebe zu großen Teilen an den Westen verkauft wurden und die Einnahmen abfließen? Was macht es mit der Gesellschaft, wenn die Leute sich keine eigenen Strukturen aufbauen können, weil das Geld nicht vorhanden ist und diejenigen, die das Geld haben, nicht vor Ort leben?

Die Beispiele zeigen auf vielfältige Art wie stark viele strukturelle Probleme miteinander verwoben sind. Und dies zeigt Gammelin mit ihrer Mischung der Anekdoten zusammen mit Erläuterungen sehr eindrucksvoll. Zugleich wiederholt sich das Buch dadurch an verschiedenen Stellen stark, was den Lesefluss mitunter anstrengend macht. Dennoch gelingt es Gammelin dadurch umso mehr die vielfältigen Perspektiven aufzuzeigen.

Macht der Osten Politik?

Wie oben beschrieben hatte ich insbesondere mit dem Untertitel zu Beginn meine Probleme. Denn insbesondere beim Lesen des Buches erhält man zunächst eher den Eindruck, dass der Osten im Gegenteil gar keine Möglichkeit hat Politik zu machen. Überrollt von der Wende. Politiker aus dem Westen in hohen Positionen. Politische Strukturen wie die im Osten Runden Tische werden zugunsten der im Westen üblicheren Hinterzimmerpolitik verdrängt. Kann man überhaupt davon reden, dass der Osten Politik macht?

Neben Privatpersonen lässt Gammelin auch immer wieder Politiker zu Wort kommen – sowohl beteiligte Politiker aus der Zeit der Wende wie auch heutige Ministerpräsident*innen aus dem Osten. Und hier wiederum schließt sich der Kreis: Am Beispiel der beginnenden Pandemie wird aufgezeigt wie wandlungsfähig der Osten bis heute geblieben ist: Wesentlich schneller darin, Veränderungen nicht nur zu planen, sondern auch umzusetzen. Und zugleich wesentlich bemühter (breite) gesellschaftliche Allianzen zu schmieden. Auch Angela Merkel wird übrigens ein eigenes Kapitel gewidmet, auch wenn dieses aufzeigt, dass Merkel gerade kein typisches Beispiel (so es denn eines geben würde) für einen ostdeutschen Politiker sei. Aber dies sei nur am Rande erwähnt.

Auch wenn das Buch erzählerisch nicht ganz rund ist, hat es mich vieles über die Mentalität im Osten gelehrt. Und dabei nicht nur Hintergründe geliefert, sondern ein größeres Verständnis für die Menschen im Osten und ihre Bedürfnisse geschaffen. Wie tiefgreifend die einzelnen Strukturprobleme das ganze Leben über Generationen hinweg bestimmen, konnte ich bisher nie recht erfassen. Mich würde abschließend sehr interessieren, wie jemand, der im Osten sozialisiert ist das Buch bewertet. Falls ihr also im Osten sozialisiert seid und das Buch gelesen habt, lasst mich in den Kommentaren gerne eure Meinung wissen!

Fazit: Ein Buch, das Respekt und Verständnis für den Osten schafft! Mit vielen Hintergründen und angereichert mit Anekdoten zeichnet Gammelin die Entwicklung von der Wende bis hin zur Pandemie nach. Und zeigt zugleich: Trotz fehlender Aufarbeitung der Wende, verschafft sich der Osten zunehmend Gehör.


Falls ihr euch über das Cover wundert: Es handelt sich bei diesem Buch um eine Auflage der bpb (unbezahlte Werbung). Dort findet ihr immer wieder Bücher zu gesellschaftlichen Themen zum kleinen Preis. Es lohnt sich, dort hin und wieder hineinzuschauen!

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