[Rezension] Die Freiheit im Geiste: „Ich fahre nach Madrid“ von Naira Gelaschwili
Ich kann nicht sagen, dass ich eine große Kennerin der georgischen Literatur sei und ich bin nicht sicher, ob Ich fahre nach Madrid mir diese näher bringen konnte. Naira Gelaschwili hat eine ganz besondere Novelle verfasst, doch die Lektüre lässt mich rastlos und sprachlos zurück, ohne das ich genauer begründen könnte, woran dies liegt.
Ich fahre nach Madrid von Naira Gelaschwili
Sandro Litscheli will fort, doch kann er nicht einfach ins Ausland reisen. So erzählt er seinem Chef, seiner Frau und den Nachbarn die verschiedensten Gründe, warum er schnell aufbrechen und fort müsse. In Wahrheit verlässt er nicht einmal die Stadt, sondern quartiert sich bei einem alten Freund, einem Arzt in einem nicht genutzten Krankenzimmer ein. Von dort träumt er sich nach Madrid, bis er vermeint die Meeresluft zu schmecken und die Stimmen seiner alten Freunde zu hören, die er doch so gerne jedes Jahr besuchen würde. Doch wie lange kann man der Realität entfliehen, bis diese einen gnadenlos einholt?
Realistische Bezüge und Regimekritik?
Was Naira Gelaschwilis Novelle so stark macht ist nicht ihr Erzählton, der mitunter recht prosaisch daherkommt. Vielmehr sind es die Hintergründe um die Entstehung ihres Textes, die im Buch selbst leider erst im Nachwort aufgegriffen werden. Man blickt als Leser*in von außen auf ein System, das man nur schwer fassen kann, doch kann man die Sehnsucht nach Freiheit und die Grenzen der eigenen Entwicklung beim Lesen fast erahnen. Ich wunderte mich sehr, dass erst das Nachwort Bezug nimmt auf Georgien, doch andererseits frage ich mich, ob nicht bereits die Ahnung über die Reiseunfreiheit den (westlichen) Blick des Lesers genug einschränkte.
Er stand auf, ging zum Fenster, betrachtete die sich leicht wiegenden Wipfel der Bäume und begann in aller Ruhe zu überlegen: Früher hatte er nie von Madrid geträumt. Er reiste dorthin immer im wachen Zustand. Dorthin und auch auf die Inselgruppe Madeira, an die Küste des roten Meeres, auf die Inseln Erromango oder Espiritu Santo. Was könnte denn einfacher sein!
Ich fahre nach Madrid, Seite 13 und 14
Nur schwer kann ich meine Leseeindrücke in Worte fassen, denn selbst beim Lesen ergriff mich die Rastlosigkeit der Geschichte. Sandro träumt nicht einfach nur von fremden Ort, ganz bewusst entzieht er sich der Realität und versetzt sich in eine andere Welt. Darin ist er gern gesehener Gast fremder Länder, nicht einfach kurzweiliger Besucher. Die Sehnsucht schwingt immer mit: Nicht die Reise selbst ist sein Traummittelpunkt, sondern die Akzeptanz der Welt, dass er als Gleichberechtiger Anteil nehmen dürfe. Zumindest ein wenig wird mir nachvollziehbar, warum die Novelle, die 1982 geschrieben wurde und mit deren Veröffentlichung die Zeitschrift fast anderthalb Jahre zögerte, damals einigen Unmut erregte und als stark regimekritisch wahrgenommen wurde.
Fazit: Sehr subtil und dennoch mit starkem Nachdruck entblößt Gelaschwili eine georgische Sehnsucht und den Wunsch nach Freiheit. Keine leichte Nebenbei-Lektüre, sondern mehr ein Leseerlebnis.
Dieses Buch habe ich im Rahmen von #WirlesenFrauen gelesen.
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Ich fahre nach Madrid von Naira Gelaschwili
96 Seiten
Verbrecherverlag