Warum mir „Nichts was im Leben wichtig ist“ von Janne Teller Bauchschmerzen bereitet hat
Das schmale Buch Nichts: Was im Leben wichtig ist von Janne Teller ist kein einfaches Werk! Da ich aber so vieles davon gehört hatte, wollte ich mir einen eigenen Eindruck verschaffen und habe das Buch spontan aus einer Krabbelkiste im Antiquariat mitgenommen. Danach lag es dann aber lange ungelesen in meinem Regal, weil ich mich nie ganz überwinden konnte, das Buch zur Hand zu nehmen. Im Nachhinein betrachtet war das vielleicht eine gute Wahl für mich, denn der Inhalt ging mir sehr nahe…
Vielleicht vorab: Ich kann euch unmöglich beschreiben, worum es in diesem Roman geht, ohne euch zu spoilern. Wer den Roman also noch unbefangen lesen möchte, muss selbst entscheiden, ob er so viele Informationen vorab erhalten möchte!
CN: Mobbing, Vergewaltigung, Tod
Worum geht es in Nichts was im Leben wichtig ist?
In einer beschaulichen dänischen Kleinstadt steigt ein Junge, Pierre Anthon, eines Tages auf einen Baum und beschließt nicht mehr herunterzukommen. Der Grund: Das ganze Leben sei bedeutungslos und damit auch die Schule und alles andere. Mit ‚logischen‘ Fragen drängt er seine Mitschüler:innen in die Enge: Was, wenn er Recht hat? Um ihn zu widerlegen, beschließen die Kinder im alten Sägewerk Dinge zu sammeln, die ihnen bedeutsam erscheinen. Der „Berg der Bedeutung“ entsteht und wächst immer schneller. Dabei verhandeln die Kinder schließlich nicht nur die Frage, was Bedeutung ist, sondern auch welchen Wert diese hat und inwieweit man bereit sein muss, Opfer für die eigenen Überzeugungen zu erbringen.
Eine Spirale der Gewalt und meine grundsätzlichen Probleme damit
Die Grundfrage des Romans ist sehr spannend. Einfach ist die Lektüre jedoch keinesfalls. Nicht ohne Grund löste er bei seinem Erscheinen in Dänemark einen Skandal aus und war zeitweise an dänischen Schulen verboten. Die Ansichten von Pierre Anthon sind sehr nihilistisch, das Leben hat für ihn keinen Sinn. Die restlichen Kinder seiner Klasse sind seinen bohrenden Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung des Lebens nicht wirklich gewachsen und beschließen, ihm die Bedeutung stattdessen zu zeigen. Sehr schnell entwickelt der Roman dabei eine Entscheidungsabfolge, die eher zu einem Psychothriller gepasst hätte. Um Bedeutung zu demonstrieren, ‚opfern‘ die Kinder wechselweise ihnen bedeutsame Gegenstände (zumindest am Anfang). Damit niemand schummelt und nur tatsächlich Bedeutsames auf dem Berg landet, wählen die Kinder reihum aus, was ein anderer zu opfern hat. Wer etwas opfern musste, darf sich als nächstes mit einer Opferforderung ‚rächen‘, jedoch nicht bei seinem zuvorigen Peiniger. Man braucht wohl keine psychologische Ausbildung, um die verletzten Gefühle und die sich steigernde Gewalt-Spirale zu erahnen. Genau diese Eskalation ist im Roman angelegt und offensichtlich gewollt.
Über all dem geht nur leider ein wenig die Frage, was denn nun dem Leben Bedeutung gibt, verloren. Das Ziel scheint der Eklat zu sein und die Ungeheuerlichkeit der geschilderten Ereignisse. Der Sarg eines jüngst verstorbenen Geschwisterchens ist dabei nur der Anfang einer Reihe moralischer höchst fragwürdiger Opferwünsche. Auf die Forderung der Unschuld eines Mädchens, dessen Vergewaltigung zwar nicht geschildert, dafür aber umso drastischer durch die Anwesenheit mehrerer Jungen aufgeladen wird, folgt alsbald eine grausam detaillierte Schilderung: Einer der zuvor beteiligten Jungen bekommt einen Zeigefinger abgehackt.
In der Folge werden Polizei und Öffentlichkeit auf die Geschehnisse aufmerksam. Der Berg der Bedeutung erhält nun wirklich Bedeutung: Als Kunstobjekt aufgrund der Taten der Kinder, die zu dem Zeitpunkt keiner bis ins Detail kennt. Pierre Anthon dagegen ist von der Bedeutung des Berges nicht überzeugt und verspottet seine Mitschüler:innen für ihre Taten und ihren subjektiven Glauben an eine etwaige Bedeutung. Sehr endgültig bringen die Kinder ihn daraufhin zum Schweigen und verbrennen anschließend den Berg der Bedeutung mitsamt altem Sägewerk. Und am Ende herrscht wieder Schulalltag, auch wenn eigentlich alle eine Therapie bräuchten… (und ich auch!).
Was soll das alles, frage ich mich?
Und zum Schluss blieb ich als Leserin relativ ratlos zurück. Über Bedeutung habe ich nichts greifbares gelernt, nur dass Gewalt immer neue Gewalt nach sich zieht. Diese Auge-um-Auge,-Zahn-um-Zahn-Gerechtigkeit stößt mich ab, so sehr, dass die eigentliche Frage nach der Bedeutung des Lebens in den Hintergrund gerät. Und ich frage mich, ob man diese Frage nicht anders besser hätte diskutieren können. Denn das anfängliche Gespräch zwischen Pierre Anthon und den anderen Kindern verliert sich so schnell in einer behaupteten Sinnlosigkeit des Lebens, dass diese These nicht einmal angezweifelt wird. Stattdessen wird Pierre Anthon von den Kindern zum Wissenden erhoben, seine Worte zur einzigen Wahrheit. Und der verkündete Tod wird zum Beleg der Sinnlosigkeit allen Lebens. Ob das Leben überhaupt eine Bedeutung haben muss und was der Sinn dieser Bedeutungszuschreibung sein könnte, wird nicht weiter reflektiert. Stattdessen werden Kindern, die erkennbar nicht über die geistige Reife über das Thema verfügen, zu Handelnden erklärt, während die Erwachsenen zu passiven Nebenfiguren verkommen. Dennoch hat dieses Buch mit der Skandalität wohl alles erreicht, was es erreichen sollte…
Fazit: Eine Spirale der Gewalt und ein „Gerechtigkeitssinn“, der eher einem Auge um Auge, Zahn um Zahn ähnelt. Leider blendet der nihilistische Ansatz die Frage, ob das Leben überhaupt eine Bedeutung braucht und was der Sinn dieser ist, aus. Die Lektüre ist jedenfalls nichts für schwache Nerven…
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Nichts was im Leben wichtig ist von Janne Teller
Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler
Original erschienen 2000, deutsch erstmals 2010
140 Seiten
Hanser
9 Kommentare
Mikka Gottstein
Hallo,
ein Eindruck ist meinem sehr ähnlich – ich habe das Buch 2014 gelesen und hatte den Eindruck, als habe die Autorin eine Checkliste der Provokationen abgehakt. Verstümmelung, Grabschändung, Vergewaltigung, Tierquälerei, Check.
Schon nach wenigen Seiten fragte ich mich, was die Autorin uns damit eigenltich sagen will. Der Protagonist hat Recht und das Leben IST sinnlos? (Bringen die anderen ihn nachher um? Das weiß ich gar nicht mehr…) Dann weiß ich nicht, was das Buch mir dann noch geben soll. Für mich war das wie „Herr der Fliegen“ ohne den nötigen Tiefgang.
LG,
Mikka
Jennifer
Liebe Mikka,
„Herr der Fliegen“ hatte ich gar nicht erst gelesen. Aber das mit der Checkliste klingt tatsächlich ziemlich nachvollziehbar. Mein Eindruck war jedenfalls sehr negativ, nicht nur aufgrund der Gewaltdarstellungen, sondern als Gesamteindruck. Ich bin aber gespannt, wie andere das empfinden, denn einige haben mir nun schon geschrieben, dass sie den Roman nun noch einmal lesen wollen…
LG Jennifer
Seitenfetzer
Guten Morgen,
Ich habe gerade erstmal noch geschaut, was mein 14-jähriges Ich damals in die Rezension geschrieben hat. Tatsächlich schien mich die immense Gewalt gar nicht so sehr beschäftigt zu haben – die wenige Auseinandersetzung mit der Ausgangsfrage und die merkwürdige Darstellung der Kinder hatten mich hingegen schon damals beschäftigt.
Als Theologin muss ich aber gerade an zwei Stellen deiner Rezension einhaken: Die alttestamentliche Talionsformel (Auge um Auge, etc.) sollte höchstwahrscheinlich derartige Rache-Spiralen verhindern, indem man eben nicht mehr als Selbstjustiz einfach irgendetwas schlimmeres als Rache ausüben durfte, sondern nur verhältnismäßig (bzw. geht es womöglich gar nicht darum, wem anders ein Auge auszustechen, sondern quasi gleichwertigen Schadensersatz zu erhalten). Kurz gesagt: es heißt Auge um Auge. Nicht „Zwei Augen für eins“. Die Steigerung der erbrachten Opfer in „Nichts“ kann also nicht mit der Talionsformel beschrieben werden.
Ich hoffe, mein kleiner Belehrungsanfall am Morgen überrumpelt dich nicht zu sehr.
Viele Grüße
Seitenfetzer
Jennifer
Guten Morgen,
wenn auch eine Woche später… 🙂
Das hat aber nix mit dir zu tun, sondern mit dem neuen Job und dem entsprechenden Stress.
Zuersteinmal: Danke für den Belehrungsanfall, ich fand es sehr spannend und lerne gerne dazu.
Zumal es ja streng genommen, nicht einmal Auge um Auge IST, weil sich ja keiner an seinem Peiniger rächen kann, sondern nur an einer weiteren eigentlich unschuldigen Person. Das ist ja eigentlich sogar noch schlimmer, wenn man darüber nachdenkt.
Ich muss auch sagen, dass mir die Gewalt als Kind wohl auch nicht aufgefallen wäre, vieles wird ja auch kindlich naiv erzählt und schwingt mehr im Hintergrund mit.
So, ich hoffe du bist mir über die lange Antwortzeit nicht böse!
Liebe Grüße aus Leipzig
Jennifer
Petra Meyer zu Hörste
Danke! Endlich mal jemand, der die Bedeutung dieses Werkes hinterfragt. Meine Tochter muss sich in der Schule damit beschäftigen, und sie findet es vor allem nervig, dass die Diskussion von „Bedeutung“ ständig die Ebene wechselt und dabei überhaupt kein Erkenntnisgewinnung herumkommt.
Sie wäre gerne mit Pierre-Anthon in eine Diskussion eingestiegen, denn das Nichtstun scheint ja wiederum für ihn das absolut Bedeutungsvollste zu sein – warum??
Vielleicht bin ich aber zu voreingenommen – ich gehe ehrenamtlich ins Gefängnis und kenne durchaus Gewaltverbrecher, auch Mörder. Diese absolut empathielosen Schulderungen finde ich einfach nur unpassend und kein Stück motivierend, als Leser näher darüber nachzudenken.
Schade vor allem, dass die Ich-Erzählerin selbst acht Jahre später Ihre Mitverantwortung kaum wahrnimmt bzw. immer noch mit Stolz davon erzählt und man selbst bruchstückhafte Ansätze von Reue sehr suchen muss.
Aus meiner Sicht ein Buch für Leser, die die Sensationslust der Ich-Erzählerin am Leid relativ hilfloser Opfer teilen.
Jennifer
Hallo Petra,
vielen Dank für deinen Kommentar, ich finde deine Schilderung sehr spannend!
Ich kann mich deiner Tochter nur anschließen: Ich hätte auch lieber mit Pierre-Anthon über Bedeutung diskutiert als diese merkwürdige Handlung der Kinder zu verfolgen. Da wäre meiner Meinung nach viel mehr Potential zur Erzählung gewesen.
Auch, dass die Ich-Erzählerin ihre eigene Mitschuld nicht reflektiert, tun die Kinder ja insgesamt nicht, ist ein Aspekt, der mir erst im Nachhinein so richtig bewusst wurde und den ich dann stark vermisst habe. Danke, dass du noch einmal darauf aufmerksam machst!
Ich frage mich bis heute, was die genaue Intention des Stückes ist. Ich meine, es ist ja explizit für Jugendliche geschrieben und eine Auseinandersetzung damit eigentlich gewünscht. Ich kann mir nicht vorstellen, in welchem Kontext das Buch als Schullektüre wirklich sinnvoll einzusetzen wäre…
Viele Grüße aus Leipzig
Jennifer
Petra Meyer zu Hörste
*empathielosen Schilderungen
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Bernd Lauert
Das Buch ist billigstes Geschreibsel, das die Preise, die es eingeheimst hat, keinesfalls verdient hat. Offenbar haben die Preisverleiher eine Menge mehr in das Buch hineininterpretiert, als drinsteht, und Frau Teller hat eingedenk der mit den Preisen verbundenen Geldsummen zu allem ja und amen gesagt.
Beim Lesen bin ich immer wieder über logische Ungereimtheiten gestolpert, die die Handlung unlogisch und wirr erscheinen lassen.
Wieso darf ein 14jähriger Junge einfach so den Unterricht verlassen? Wo sind die Eltern, wo die Schule? Keiner reagiert auf Pierre-Anthon’s Fernbleiben vom Unterricht. Zwar gibt es in Dänemark keine Schulpflicht, aber die Bildungspflicht ist vorhanden.
Wieso lässt sich eine ganze 7te Klasse von einem einzelnen Jungen, den bis dahin offenbar niemand so richtig auf dem Zettel hatte, und seinen (offen gesagt recht klischéehaften) Sprüchen derart verunsichern?
Die Spirale der Gewalt ist bizarr und vollkommen verrückt. Die Kinder sind wie besessen und reflektieren zu keiner Sekunde, was sie da eigentlich tun. Ohne mit der Wimper zu zucken wird ein Tier getötet, ein Kindersarg (samt Inhalt) ausgebuddelt und ein Mädchen gruppenvergewaltigt. Erst als jemand einen Finger verliert, fliegt die ganze Sache auf. Und jetzt kommt eine der grössten Ungereimtheiten des Buches, wegen der ich es beinahe zur Seite gelegt hätte: anstelle mit Ekel und Entsetzen zu reagieren („Wie konnte es nur so weit kommen?!“) und die Kinder geschlossen in die Klapse oder zumindest zum Therapeuten zu schicken, kriegen sie nur Hausarrest aufgebrummt – echt jetzt, Frau Teller? Ein Mädchen wird vergewaltigt, ein Grab geschändet und der Sarg samt Leiche auf einen besseren Müllberg geworfen, ein Tier wird geköpft und jemandem wird der Finger abgehackt – aber hey, mit Hausarrest ist das alles abgegolten?
Währenddessen wird der „Berg aus Bedeutung“ zum Kunstobjekt stilisiert und ein Museum in Übersee will den sogar für eine heftige Summe kaufen – offenbar ist man auch dort so hirnverbrannt, dass es den Leuten vollkommen egal ist, dass auf dem Berg (unter anderem) ein Tierkopf, ein KINDERSARG SAMT INHALT (kann ich nicht oft genug sagen, sorry), ein Taschentuch mit dem Blut einer Vergewaltigung und der abgehackte Finger eines Menschen liegen. Geht’s noch?!
Der von der Protagonistin herbeigerufene Pierre-Anthon weist den Berg und seine Bedeutung mit dem (vollkommen berechtigten!) Einwand zurück, dass die Bedeutung ja nicht so gross sein kann, wenn die Kinder willens sind, den Berg zu verkaufen. Das und die anschliessende spöttisch-sarkastische Abrechnung Pierre-Anthons mit jedem einzelnen Objekt auf dem Berg und dessen Besitzer sind für mich persönlich das Highlight des Buches: P-A macht die Kinder gründlich zur Sau und führt ihnen den Wahnwitz ihres Handelns vor Augen.
Und was geschieht? Voll hilflosem Zorn, denn sie wissen, dass Pierre Anthon recht hat, prügeln seine Mitschüler Pierre-Anthon zu Tode und fackeln anschliessend das Sägewerk ab, um den Mord zu verschleiern – und sie kommen damit durch. Jahre später trägt die Protagonistin, wie alle ihrer ehemaligen Mitschüler auch, eine Streichholzschachtel mit etwas Asche von dem Brand mit sich herum. Reue oder Schuldgefühle? Fehlanzeige! Nur das vergewaltigte Mädchen war in der Klapse und hat einen gehörigen Schaden davongetragen.
Mit der Frage der Bedeutung befasst sich das Buch nur am Anfang um am Ende. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Bedeutung nur als Aufhänger für die Gewaltspirale und ihre sinnlose Brutalität dienen sollte.